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Forschung aktuell
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Wie entstehen Strukturen?
Oldenburger Forscher untersuchen nichtlineare Systeme
Galaxien, Wolken, menschliche Gesellschaften, Nervensysteme, quantenphysikalische
Systeme: Auf allen Ebenen ist die Welt erfüllt mit Strukturen, von einfachen
bis zu hochkomplexen. Struktur ist das, was die Welt vom „Tohuwabohu“ nach 1.
Mose 1,2 unterscheidet. Wie Strukturen entstehen, ist seit jeher eine der Hauptfragen
der Wissenschaft.
Auf nichtlinearen Prozessen beruhende Strukturbildungsprozesse, bei denen also
Ursache und Wirkung nicht einfach und proportional zusammenhängen, werden
auch von PhysikerInnen der Abteilung Energie- und Halbleiterforschung am Fachbereich
Physik der Universität untersucht. Die Oldenburger Gruppe ist Teil eines
bundesweiten, interdisziplinären Netzwerkes von etwa 30 Arbeitsgruppen in
dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Schwerpunktprogramm
„Strukturbildung in dissipativen kontinuirlichen Systemen - Experiment und Theorie
im quantitativen Vergleich“.
Nichtlineare Prozesse werden mittlerweile von vielen WissenschaftlerInnen als
zentrale struktur-bildende Mechanismen der belebten wie der unbelebten Welt aufgefaßt.
Prof. Dr. Jürgen Parisi, Leiter der Oldenburger Abteilung, verdeutlicht die
Bedeutung dieser Forschungsrichtung: „Untersuchungen an einfachen mathematischen
Modellen deuten darauf hin, daß sich die Natur möglicherweise als ein
gewaltiges gekoppeltes Schwingungsgebilde beschreiben läßt, das aus
oszillierenden Teilsystemen auf vielen Skalen besteht - von der Himmelsmechanik
bis hin zur Quantenmechanik.“ Parisi, der auch einer der drei Koordinatoren/Organisatoren
des DFG-Schwerpunktprogramms ist, ist außerdem Mitherausgeber zweier aktueller
Tagungsbände zur nichtlinearen Physik und Mitorganisator der beiden zugrundeliegenden
nationalen Konferenzen 1995 und 1996.
Obwohl erstmals schon vor etwa einhundert Jahren nichtlineare physikalische
Strukturbildungs-prozesse beschrieben wurden, sind solche Prozesse erst seit etwa
zwanzig Jahren physikalischer Deutung und Theoriebildung zugänglich. So ist
ein klassisches Phänomen die sogenannten Rayleigh-Bénard-Konvektion:
Beheizt man eine dünne Flüssigkeitsschicht von unten, bilden sich sogenannte
Rollen oder Zellen aus, wabenförmige Strukturen, in denen die Flüssigkeit
aufsteigt und an deren Rändern sie wieder absinkt. Sie lassen sich sehr einfach
z.B. beobachten, wenn man einen Rest kalten Kakaos im Topf erwärmt.
Heute haben neue theoretische Konzepte, präzise Meßmethoden und
die stark angewachsene Kapazität von Computern Möglichkeiten eröffnet,
viele Phänomene der nichtlinearen Dynamik wie die Rayleigh-Bénard-Konvektion
nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu verstehen. Dadurch macht die nichtlineare
Physik zur Zeit eine stürmische Entwicklung durch und gilt als eine der weltweit
spannendsten, dynamischsten und bedeutendsten Forschungsrichtungen der modernen
Physik.
Im Zentrum der Forschungen des Schwerpunktprogramms stehen Fragestellungen
aus dem Bereich der Dynamik von Flüssigkeiten wie die Rayleigh-Bénard-Konvektion,
Reaktions-Diffusions-Systeme der physikalischen Chemie und der Biophysik, bei
denen nichtlineare Reaktionen mit einem Transportprozeß, z.B. molekularer
Diffusion, gekoppelt sind, sowie dynamische Strukturierungsphänomene in Festkörpern,
insbesondere Halbleitern.
Ein Beispiel aus der Biologie für eine Reaktions-Diffusions-Kopplung sind
Amöbenkolonien des Schleimpilzes Dictyostelium discoideum, bei denen es in
bestimmten Situationen zu sich spiralförmig verbreitenden Verteilungen eines
Botenstoffs kommt, der die einzelnen Amöben veranlaßt, sich zum Zentrum
der Spirale zu bewegen und sich dort zu einem vielzelligen Schleimpilz zu vereinigen.
Konzepte der nichtlinearen Physik werden heute in einer wachsenden Zahl von
Wissenschaftsdisziplinen angewandt. Beispiele dafür sind die Meteorologie
und Astrophysik, die Halb- und Supraleiterforschung und die Hydrodynamik. Mit
den Methoden der nichtlinearen Physik lassen sich Phänomene der Quantenoptik
und das Verhalten von Flüssigkeiten beschreiben, die molekulare Dynamik von
BSE, der Straßenverkehrsfluß und nichtlineare Phänomene im Gehirn
untersuchen. Die Anwendbarkeit der nichtlinearen Prozesse reicht bis in die Theorie
der Gravitation.
Sogar in der Biomedizin könnten nichtlineare Phänomene relevant sein.
So könnte die sogenan-nte „Spreading Depression“, bei dem sich im Nervengewebe
eine Welle stark reduzierter elektrischer Aktivität ausbreitet, im Zusammenhang
mit dem Auftreten von Migräne und fokaler Epilepsie eine Rolle spielen. Ein
weiteres Beispiel aus der Biomedizin ist das Auftreten von Spiralmustern in der
elektrophysiologischen Aktivität des Herzmuskelgewebes. Parisi hält
es für möglich, daß solche Prozesse das lebensgefährliche
Herzflimmern auslösen könnten.
Trotz der großen Fortschritte der letzten Jahre steckt die Anwendung
von Ideen und Konzepten dieses modernen interdisziplinären Forschungsgebiets
auf physikalische, chemische, biologische, physiologische oder auch medizinische
Systeme noch in den Anfängen. Für die Oldenburger Physiker und ihre
KollegInnen der weltweiten Wissenschaftsgemeinde der nichtlinearen Physik bleibt
also noch viel zu tun.

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